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Syrien: Einsatzkräfte der Übergangsregierung verüben offenbar Massaker mit hunderten Toten
Drei Monate nach dem Sturz der Assad-Regierung in Syrien haben Einsatzkräfte der neuen islamistischen Machthaber nach übereinstimmenden Berichten Massaker an hunderten Zivilisten verübt. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden an der Mittelmeerküste und im Gebirge bei Latakia im Nordwesten des Landes seit Donnerstag mindestens 745 Angehörige der alawitischen Minderheit getötet. Augenzeugen schilderten der Nachrichtenagentur AFP regelrechte Jagdszenen, der christliche Patriarch Johannes X. sprach von Massakern auch an Christen. Das Auswärtige Amt rief die Übergangsregierung in Damaskus auf, weitere Übergriffe zu verhindern.
Die mehrheitlich von Alawiten bewohnte Region Latakia am Mittelmeer ist seit Donnerstag Schauplatz heftiger Gefechte zwischen Kämpfern der neuen Führung und Anhängern des vor drei Monaten gestürzten Machthabers Baschar al-Assad, der ebenfalls der alawitischen Minderheit angehört. Am Freitag startete die neue islamistische Führung in Damaskus nach eigenen Angaben einen Großeinsatz, der auf "die Überreste von Assads Milizen und deren Unterstützer" ziele.
Insgesamt wurden laut Beobachtungsstelle in den vergangenen Tagen mehr als tausend Menschen getötet, darunter 125 Kämpfer der neuen Führung sowie 148 Assad-treue Kämpfer.
Zugleich wurden laut der in London ansässigen Beobachtungsstelle für Menschenrechte aber auch mindestens 745 Zivilisten durch die Regierungskräfte und verbündete Gruppen getötet. Die Beobachtungsstelle sprach von regelrechten "Massakern" und "Hinrichtungen", bei denen auch Kinder getötet worden seien. Die Opfer würden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der religiösen Minderheit oder ihres Wohnorts ausgesucht. Auch komme es zu Plünderungen.
Auch mehrere Bewohner der betroffenen Region schilderten der Nachrichtenagentur AFP wahllose Tötungen von Menschen. Die 35-jährige Alawitin Rihab Kamel sagte, sie und ihre Familie hätten sich in der Hafenstadt Banias vor den mit den neuen Machthabern verbündeten Einsatzkräften zwei Tage lang im Badezimmer ihres Wohnhauses versteckt.
Als sie schließlich ihr Wohnviertel Al-Kussur verlassen hätten, seien die Straßen "voller Leichen" gewesen. Mit ihrer Familie sei sie mittlerweile an einen Ort an der Grenze zum Libanon geflüchtet, eine christliche Familie habe ihnen geholfen. Ein anderer Bewohner von Banias, der 67-jährige Samir Haidar, der ebenfalls Alawit ist, aber der linksgerichteten, syrischen Opposition gegen Assad angehörte und jahrelang inhaftiert war, entkam den bewaffneten Gruppen, "darunter Ausländer", nach eigenen Angaben ebenfalls nur knapp. Zwei seiner Brüder und ein Neffe wurden nach seinen Worten getötet.
Mehrere Bewohner von Latakia berichteten AFP, dass Kämpfer zahlreiche Alawiten entführt hätten. Diese seien später tot aufgefunden worden. Unter ihnen sei der Leiter des staatlichen Kulturzentrums der Stadt, Jasser Sabbuh, seine Leiche sei vor den Eingang seines Wohnhauses geworfen worden.
Ein Bewohner der weiter südlich gelegenen Stadt Dschabla berichtete am Telefon unter Tränen aus dem Wohnhaus, in dem er sich mit seinen Eltern und Brüdern ohne Strom und Wasser verschanzt habe, von massenhaften Ermordungen. Mehr als 50 Mitglieder seiner Familie und seines Freundeskreises seien getötet worden. "Sie haben die Leichen mit Bulldozern zusammengeschoben und in Massengräbern begraben", sagte er und fügte an: "Sie haben sogar Leichen ins Meer geworfen."
Wie ein AFP-Fotograf berichtete, rückte ein Konvoi aus zwölf Militärfahrzeugen in Latakia im Vorort Basnada ein, Einsatzkräfte der Regierung durchsuchten dort Wohnhäuser. Alle Straßen in Richtung der Küstenregion wurden nach Behördenangaben abgeriegelt. Dies geschehe, um "Übergriffe zu verhindern", hieß es von der Regierung.
Der Patriarch der christlich-orthodoxen Kirche von Antiochien, Johannes X., sprach in seiner Predigt am Sonntag auch von "zahlreichen unschuldigen Christen", die getötet worden seien. Er forderte Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa auf, die "Massaker" im Westen des Landes zu beenden.
Der neue US-Außenminister Marco Rubio verurteilte die "Massaker" an Minderheiten in Syrien. Er forderte am Sonntag von den neuen Machthabern, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Das Auswärtige Amt nannte die "Berichte über die Ermordung von Zivilisten und Gefangenen (...) schockierend". Die Übergangsregierung stehe "in der Verantwortung, weitere Übergriffe zu verhindern, die Vorfälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen".
Der israelische Außenminister Gideon Saar sagte der "Bild"-Zeitung, die islamistischen Machthaber massakrierten "gnadenlos ihr eigenes Volk". Ihr "Gerede über Inklusivität" sei "nichts als leere Worte". Europäische Regierende forderte Saar auf, die "Realität" in Syrien nicht zu verkennen. Europa müsse "aufhören, einem Regime Legitimität zu verleihen, dessen erste Handlungen – wenig überraschend angesichts seiner bekannten terroristischen Vergangenheit – diese Gräueltaten sind".
UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk erklärte am Sonntag, ihn erreichten "äußerst verstörende" Berichte, denen zufolge ganze Familien getötet würden. Die Tötung von Zivilisten müsse "sofort aufhören".
Übergangspräsident Al-Scharaa rief am Sonntag in einer Rede in einer Moschee in Damaskus dazu auf, "die nationale Einheit, den inneren Frieden (...) so weit wie möglich" zu bewahren. Er fügte an: "So Gott will, werden wir in der Lage sein, in diesem Land so weit wie möglich zusammenzuleben."
Die islamistische HTS-Miliz von al-Scharaa hatten am 8. Dezember Damaskus erobert und die jahrzehntelange Schreckensherrschaft von Assad beendet, der nach Russland floh. Seit der Machtübernahme hat al-Scharaa wiederholt versichert, die Minderheiten im Land schützen zu wollen. Die HTS ging einst aus der Al-Nusra-Front hervor, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida.
S.Keller--BTB