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Syrien: Einsatzkräfte der Übergangsregierung verüben offenbar Massaker
Drei Monate nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad haben Einsatzkräfte der neuen islamistischen Machthaber nach übereinstimmenden Berichten Massaker an hunderten Zivilisten verübt. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden im Nordwesten des Landes seit Donnerstag mehr als 1300 Menschen getötet, darunter mindestens 830 Angehörige der alawitischen Minderheit. Augenzeugen berichteten am Wochenende von regelrechten Jagdszenen, Patriarch Johannes X. sprach von Massakern auch an Christen.
In der mehrheitlich von Alawiten bewohnten Region Latakia an der syrischen Mittelmeerküste war es am Donnerstag zu heftigen Gefechten zwischen Kämpfern der neuen Führung und Anhängern Assads gekommen, welcher ebenfalls der alawitischen Minderheit angehörte. Am Freitag startete die neue islamistische Führung in Damaskus nach eigenen Angaben einen Großeinsatz, der sich gegen "die Überreste von Assads Milizen und deren Unterstützer" richte.
Insgesamt wurden nach Angaben der in London ansässigen Beobachtungsstelle in den vergangenen Tagen mehr als 1300 Menschen getötet, darunter 231 Kämpfer der neuen Führung sowie 250 Assad-treue Kämpfer. Zugleich wurden den Angaben zufolge aber auch mindestens 830 Zivilisten getötet. Die Beobachtungsstelle sprach von regelrechten "Massakern" und "Hinrichtungen", bei denen auch Kinder getötet worden seien. Die Opfer würden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Alawiten oder ihres Wohnorts ausgesucht.
Auch mehrere Bewohner der betroffenen Region schilderten der Nachrichtenagentur AFP wahllose Tötungen. Die 35-jährige Alawitin Rihab Kamel sagte, sie und ihre Familie hätten sich in der Hafenstadt Banias zwei Tage lang in ihrem Badezimmer versteckt. Als sie schließlich ihr Wohnviertel Al-Kussur verlassen hätten, seien die Straßen "voller Leichen" gewesen. Mit ihrer Familie sei sie mittlerweile an die Grenze zum Libanon geflüchtet.
Ein anderer Bewohner von Banias, der 67-jährige Samir Haidar, der ebenfalls Alawit ist, aber der linksgerichteten Opposition gegen Assad angehörte und jahrelang inhaftiert war, entkam den bewaffneten Gruppen nach eigenen Angaben ebenfalls nur knapp. Zwei seiner Brüder und ein Neffe wurden nach seinen Worten getötet.
Mehrere Bewohner von Latakia berichteten AFP, die Kämpfer hätten zahlreiche Alawiten entführt. Diese seien später tot aufgefunden worden. Unter ihnen sei der Leiter des staatlichen Kulturzentrums der Stadt, Jasser Sabbuh. Seine Leiche sei vor den Eingang seines Wohnhauses geworfen worden.
Ein Bewohner der weiter südlich gelegenen Stadt Dschabla verschanzte sich mit seinen Eltern und Brüder in einem Haus ohne Wasser und Strom und berichtete am Telefon unter Tränen von massenhaften Ermordungen. Mehr als 50 Mitglieder seiner Familie und seines Freundeskreises seien getötet worden. "Sie haben die Leichen mit Bulldozern zusammengeschoben und in Massengräbern begraben", sagte er. "Sie haben sogar Leichen ins Meer geworfen."
Wie ein AFP-Fotograf berichtete, rückte ein Konvoi aus Militärfahrzeugen in Latakia im Vorort Basnada ein, Einsatzkräfte der Regierung durchsuchten dort Wohnhäuser. Alle Straßen in Richtung der Küstenregion wurden nach Behördenangaben abgeriegelt. Dies geschehe, um "Übergriffe zu verhindern", hieß es von der Übergangsregierung.
Der Patriarch der christlich-orthodoxen Kirche von Antiochien, Johannes X., sprach in seiner Predigt am Sonntag auch von "zahlreichen unschuldigen Christen", die getötet worden seien. Er forderte den syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa auf, die "Massaker" im Westen des Landes zu beenden.
Al-Scharaa rief in einer Moschee in Damaskus dazu auf, "die nationale Einheit" und den "inneren Frieden" des Landes "so weit wie möglich" zu bewahren. Er fügte an: "So Gott will, werden wir in der Lage sein, in diesem Land so weit wie möglich zusammen zu leben." Das syrische Präsidialamt setzte nach eigenen Angaben eine "unabhängige" Untersuchungskommission ein, welche "die Übergriffe auf Zivilisten untersuchen und die Verantwortlichen identifizieren" soll.
In Damaskus lösten Sicherheitskräfte unterdessen einen Schweigemarsch für die Opfer auf, nachdem es zu zu Zusammenstößen mit Gegendemonstranten gekommen. Die Protestierenden wurden mit Warnschüssen vertrieben.
Die islamistische HTS-Miliz von al-Scharaa hatten am 8. Dezember Damaskus erobert und die jahrzehntelange Schreckensherrschaft von Assad beendet. Seit der Machtübernahme hat al-Scharaa wiederholt versichert, die Minderheiten im Land schützen zu wollen. Die HTS ging einst aus der Al-Nusra-Front hervor, dem syrischen Ableger von Al-Kaida.
US-Außenminister Marco Rubio machte am Sonntag "radikale islamistische Terroristen" für die "Massaker" verantwortlich. Die US-Regierung stehe an der Seite "der ethnischen und religiösen Minderheiten Syriens", erklärte Rubio und erwähnte neben den Alawiten auch Christen, Drusen und Kurden. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
Das Auswärtige Amt in Berlin forderte die Übergangsregierung auf, "weitere Übergriffe zu verhindern, die Vorfälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen".
Der israelische Außenminister Gideon Saar sagte der "Bild"-Zeitung, die islamistischen Machthaber massakrierten "gnadenlos ihr eigenes Volk". Ihr "Gerede über Inklusivität" sei "nichts als leere Worte".
G.Schulte--BTB